CfP: Intimität (Zeitschrift für Medienwissenschaft)

CfP: Intimität (Schwerpunktthema der Zeitschrift für Medienwissenschaft, HEFT 15; 2/2016; OKTOBER 2016)

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Einreichungen bis 30.04.2016

Redaktion: Michael Andreas, Dawid Kasprowicz, Stefan Rieger

Digitale Medien – in all ihren Ausformungen: als Wearables, als smart environments, als Systeme des Life- Trackings oder im Rahmen des affective computing – rücken uns zunehmend «auf den Leib». Ihre Unscheinbarkeit in Form sensorischer Umgebungen und intuitiver Usability umfasst verstärkt soziale, psychologische und anthropologische Begrifflichkeiten wie Heimlichkeit / Heimeligkeit, Vertrautheit oder eben Intimität.

Dies resultiert nicht zuletzt aus der zunehmenden Auflösung des historischen Konzeptes des Interface als klar definierbarer Schnittstelle zwischen Mensch und Maschine, welche lange als bevorzugter Verhandlungsort des Medialen galt. Damit wird eine andere Kontaktzone vordringlich, nämlich jene zwischen dem Intimen, dem Eigenen und Vertrauten, und dem Anderen, dem Künstlichen und damit nicht zuletzt dem Technischen. Intimität markiert dabei sowohl den privaten Rückzugsraum als auch die Prozesse einer Selbstkonstitution ohne vertrautes Selbst. Vor allem digitale Medien als das Andere sind mehr als nur Vermittler oder Manipulatoren von Bedürfnissen: Sie gestalten neue körperliche, kognitive, ethische, informations- und designtechnische Facetten von Subjektivität. Im Hinblick auf die sozialen Praktiken der Gegenwart, ihre staatlich-ökonomischen Bedingungen und die demographischen Aufgaben einer nahen Zukunft samt einer Lebenswelt, in der technische Systeme omnipräsent sind, wird die Notwendigkeit einer veränderten Medientheorie virulent.
Zu diskutieren ist, welche neuen Vorstellungen von Körperlichkeit auf der einen, von Verbundenheit auf der anderen Seite durch die ubiquitären mobilen Endgeräte evoziert werden, wenn sich etwa der Herzschlag und die Bewegungsfrequenzen mit Smartphones synchronisieren lassen, um so nicht nur die eigene Fitness im Blick zu behalten, sondern sie in sozialen Netzwerken simultan mit Anderen abzugleichen. Zudem wird Verbundenheit auch durch die Materialisierung von Medien hergestellt, wenn es darum geht, eine Intimität des Medialen durch die Form und die Stofflichkeit des Gegenstandes zu designen.
Auch lässt sich fragen, ob man Phänomene wie das ambient assisted living, in dem die Autonomie pflegebedürftiger Menschen in ihren Wohnungen gerade durch technische Systeme gewährleistet werden soll, an die diese Autonomie delegiert wird, noch mit Konzepten eines Dispositivs oder einer Disziplinartechnik erfassen kann? Inwiefern werden vor dem Hintergrund einer freiwilligen Fremdkontrolle neue Begrifflichkeiten einer in ihrem Selbstverständnis immer schon kritischen Medientheorie notwendig? Welche Vorstellungen einer persönlichen Heimeligkeit werden in solchen techno-sozialen Settings kommuniziert, in denen der unheimliche Tiefpunkt des uncanny valley durchschritten ist?
Eine zunehmende Verzahnung der lebensweltlichen Umgebung mit digitalen Environments, aber auch die diskursive Einflechtung von Begrifflichkeiten wie dem der «Umwelt» in ein Vokabular des Medialen, geht seit den 2000er Jahren verstärkt von der Medienökologie aus. Der Schwerpunkt Intimität wird versuchen, die Umgebung mit Perspektive auf das Innerste und Nächste zu schärfen. Sei nun der Oikos der Medienökologie die Welt oder das buchstäbliche Heim, in beiden stellt sich primär die Frage nach den Techniken des Umgebens.
Auch die feministische Theorie sowie die Queer und Gender Studies perspektivieren einen Begriff der Intimität, und wenn nicht im Modus der Paradoxie, so doch in dem der Ambivalenz. Das Intime ist einerseits ein notwendiger Zugangsraum für Emotionen, andererseits aber auch jene bürgerlich konstruierte Sphäre, die heute von kulturkonservativen Technopessimisten als «natürlich» verteidigt wird. Die Queer und Gender Studies haben deutlich gemacht, wie jegliche Definitionen von Intimität mit ihren medientechnischen Bedingungen zusammenhängen. Nicht erst mit dem Aufkommen der Virtual Reality werden neue mediale Rahmungen als Potential für alternative Praktiken der Intimität gesehen. Im Zuge eines «affective turn» lassen sich so neue Formen
der Intimität fassen, die nicht auf den Code oder die Algorithmen technischen Gerätes rekurrieren. Vielmehr gerät – mit Anleihen aus der Psychologie und der Kognitionswissenschaft – eine materiell-körperliche Wahrnehmung in den Blick, die sich einer diskursiven Analyse entzieht.
Die Frage nach der Intimität in digitalen Environments richtet ihren Blick auf die Praktiken einer medientechnisch induzierten Aushandlung jener angeführten Schwellen zwischen dem Heimeligen und dem Anderen, dem Privaten und dem Öffentlichen. Im Kontext einer medientechnisch induzierten Aushandlung jener angeführten Schwellen erscheint auch die Auseinandersetzung mit Konstruktion und Modellierung von User-Typen relevant. User-Typen werden eingesetzt, um die institutionalisierten Grenzziehungen (privat / öffentlich) wieder in die diversen sozio-kulturellen Handlungssysteme integrieren zu können.
Im Folgenden sind fünf Punkte rund um die Verhandlung einer technisch bedingten Intimität aufgeführt:

  • Erstens geht mit der Ausweitung einer Kompetenz von und über Medien eine Herausforderung an Forschungen zur Usability einher, die nicht mehr auf das Antizipieren von Gewohnheiten potentieller Käuferschichten oder Forderungen nach einem funktionellen Design reduzierbar ist. Begriffe wie Vertrauen, Akzeptanz und Heimeligkeit gewinnen für die Interaktionsgestaltung von Mensch und Medium wieder zunehmend an Bedeutung. Dabei rücken die Fragen, ob, wann und wie das Medium dem / der User_in gegenüber treten soll, in den Vordergrund.
  • Zweitens geht mit dieser Anthropologisierung des Interaktionsdesigns eine Ausweitung des Benutzer-Kreises einher, die sich quer durch alle Altersstufen zieht – und damit zu einer Multiplikation des «naiven Users» führt. Hieran schließen sich medizinische, soziale, ethische, pädagogische und damit auch generationspolitische Fragestellungen, die in der Nutzungspraxis explizit werden. Genauer zu untersuchen wäre in diesem Kontext auch, welche anthropologischen Setzungen in Bezug auf Alter, Geschlecht, soziale Herkunft oder «kulturelle Identität» vorgenommen werden.
  • Drittens hat sich die Popularität und Ubiquität sozialer Medien (Facebook, Twitter, YouTube) in Narrativen von Öffentlichkeit niedergeschlagen. Rekurrieren diese Narrative auf Utopien der neomarxistischen Medientheorie der 1970er Jahre und auf Begriffe wie «Gesellschaft» oder «Öffentlichkeit», so geht mit der Individualisierung in Gestalt von «Profilen» eine Intimisierung einher, wenn Profile zugleich immer auch Kundenprofile sind. Zugespitzt hieße das: Inwieweit die Like-Ökonomie vermehrt auf affektive Affirmation abzielt, anstatt auf einen Diskursbegriff, der ja klassischerweise «Öffentlichkeit» einfordert, steht zur Debatte.
  • Viertens: Im Design des Medienumganges lässt sich eine Rückkehr zum Heimeligen und Vertrauten feststellen, etwa über die Geste teletaktiler Verbundenheit oder die Einbindung multimedialer Environments. Die ins Spiel gebrachten Semantiken einer soziokulturellen Vertrautheit verlängern dabei identitätsstiftende Kategorien wie jene der Freundschaft, der Beziehung oder der Familiarität in die sozialen Netzwerke. So wird Intimität durch intuitive Bedienbarkeit unterstützt, wenn nicht zuallererst evoziert. Andererseits lässt sich im Hinblick auf die Taktiken und Praktiken des Umgangs mit diesen Medien fragen, inwiefern sie eben doch emanzipative Funktionen übernehmen, z. B. durch Anverwandlung, wenn nicht durch die Subversion der Plattform und ihrer Funktionalität eine Nähe erzeugt wird, die über das intendierte Design hinausgeht. Für potentielle Beiträge wäre hier insbesondere eine ethnografische und / oder künstlerisch-ästhetische Perspektive wünschenswert.
  • Fünftens sind mit dem Begriff der Intimität ethische Fragestellungen aufgerufen, die nicht zuletzt unter posthumanistischen Aspekten eine neue Tragweite erreichen. Die hier skizzierten Medienumgebungen schaffen ethische Paradoxa, indem gerade durch eine Delegation von Entscheidungen an Algorithmen individuelle Autonomie gewährleistet werden soll. So stellt sich für die Anwendungsfelder Robotik, automatisierte Bilderkennung und Logistik (Pflege-Roboter, Einparkhilfen, «driverless car» und nicht zuletzt die Debatten um sogenannte killer robots) die Frage, in welchem Ausmaß computergestütztes Handeln in lebenskritischen Situationen überhaupt erstrebenswert ist.

Mögliche Fragestellungen
Die Medialität einer paradoxalen Nähe – die nie unmittelbar, sondern verkleidet oder verbaut ist, aber im Design und in der Semantik eine Unmittelbarkeit suggeriert – lässt sich unter Berücksichtigung der Unschärfe des Begriffs Interface zunächst heuristisch als Post-Interface bezeichnen. Die klassischen Forschungsfragen an Medien (in ihrer Funktion als Speicher-, Lese- und Schreibapparate) müssen daher um Kategorien des Designs, der Haptik, der Akzeptanz, der Beziehung, des Affekts, kurzum: der Intimität ergänzt werden. Solche Verschiebungen hin zu einem Invisible User Interface und zu übergangslosen (engl.: seamless) Schnittstellen erstrecken sich nicht nur auf eine vermeintlich weitere Etappe von smart objects im Stadium der ubiquitären Computerisierung. Sie verweisen auf soziale, politische und ökonomische Szenarien, in denen gerade die Absenz des Technischen zugunsten einer Intimität des Medialen die Bedingung einer Rekonstitution anthropologischer Rückzugsorte wie Heim und Familie darstellt.
Somit könnten folgende Fragestellungen als Ausgangspunkt für eine medienwissenschaftliche Auseinandersetzung dienen:

  • Welche Praktiken dienen den Erstellern von User-Konzepten, um eine Vertrautheit mit dem Medialen herzustellen? Welche sozialen, psychologischen oder physiologischen Wissensformen werden hierfür mobilisiert?
  • Wie lassen sich Figuren einer selbstbestimmten Fremdkontrolle angemessen beschreiben? Bis wohin reicht hier die Ethik einer klassischen, machtanalytisch ausgerichteten Medienkritik im Hinblick auf ökonomische, politische und demographische Notwendigkeiten? Welche Art von Kritik jenseits von Begrifflichkeiten wie Gouvernementalität, Dispositiv oder Kontrollgesellschaft kann hier noch ins Spiel gebracht werden?
  • Wie wird in diesem Kontext mit Begriffen wie dem der Autonomie operiert? Wo enden Handlungsträgerschaften, wo bleiben sie diffus bestehen und werden somit zu Phänomenen einer «teilsouveränen Handlungsmacht» (Karin Harrasser)?
  • Wie wandeln sich durch die Konzeption mediatisierter Intimität Vorstellungen anthropologischer Rückzugsorte wie des Heims, oder Entwürfe des Familiären sowie durch ubiquitäre Vernetzung herausgeforderte Konzepte wie das der Freundschaft?
  • Welche Auswirkung hat die Konjunktur von Nähe in Mensch-Medien-Kopplungen auf körperliche Erfahrungen und Bewegungsroutinen, die oft mit einer Vorstellung der Intimität einhergehen?
  • Betroffen davon ist nicht zuletzt eine veränderte Arbeitswelt. Diese setzt unter anderem darauf, durch die Simulation von Arbeitsabläufen zwischen Maschinen und Menschen intuitive Bewegungsfolgen zu konstruieren. Wie lässt sich also Vertrauen durch körperliche Interaktionen mit dem Technischen operationalisieren?
  • Welche historischen Vorläufer einer medialen Intimität gibt es, etwa in der Geschichte des Kinos, des Fernsehens oder des Computers?
  • Wie ließe sich der Frage nach einer Ästhetik mediatisierter Intimität nachgehen?

Redaktion des Schwerpunkts:
Michael Andreas (Ruhr-Universität Bochum), Dawid Kasprowicz (Leuphana Universität Lüneburg) und Stefan Rieger (Ruhr-Universität Bochum)
Einreichung kompletter Beiträge im Umfang von ca. 25.000 Zeichen bis zum 30. April 2016 erbeten, per Email an: stefan.rieger@rub.de // dawid.kasprowicz@leuphana.de // michael.andreas@rub.de
Stylesheet und weitere Hinweise unter
http://www.zfmedienwissenschaft.de/service/submission-guidelines

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