Bericht zum 4. AG-Workshop „Zeitlichkeit des Interface“ (Siegen, 06./07. Juni 2019)

Der vierte Workshop der AG Interfaces, der als Kooperationsworkshop mit dem Teilprojekt „Navigation in Online/Offline-Räumen“ des SFB „Medien der Kooperation“ in Siegen stattfand, widmete sich der Frage nach der Zeitlichkeit von Interfaces. Aufgerufen war damit eine Bedeutungsdimension, die sowohl praktische, ästhetische und historische Aspekte von Interfaces umfasst. Sie steht quer – und hat zugleich Verbindungspunkte – zu der klassischen Fokussierung auf räumliche Fragen des Interface. Über die dominante, aber zunehmend zu historisierende Wahrnehmung von Interfaces als Graphical User Interfaces (GUIs) hinaus, stellte der Workshop die Zeitfrage wesentlich grundsätzlicher im Hinblick auf verschiedene Ebenen der Prozessualität und Funktionalität von Interfaces als vermittelnde Instanzen.

Die Beiträge des Workshops fächerten die Frage nach temporalen Strukturen und Prozessen die mit Interfaces verknüpft sind und/oder sich an ihnen beobachten lassen, dementsprechend breit auf, indem sie sehr unterschiedliche Anwendungskontexte fokussierten.

Alice Soiné und Daniel Stoecker (Potsdam) stellten zu Beginn die Frage, inwiefern fiktive und narrative Konzeptionen alternativer oder allumfassender Zeitlichkeit als Ausgangspunkt für die Auseinandersetzung mit der spezifischen Zeitlichkeit algorithmischer Medienumwelten dienen können. Am Beispiel Ted Chiangs SciFi-Kurzgeschichte Story of Your Life (2000) und dem auf ihr basierenden Kinofilm Arrival (2016) von Denis Villeneuve wurden verschiedene filmisch adressierte Zeitebenen und narrative Konzeptionen von Medientechnologie diskutiert, die sich als anschlussfähig an aktuelle Debatten um die auf mögliche Zukunftsszenarien gerichtete ‚predictive analysis‘ erwiesen.

Katharina Groß (Weimar) stellte Ergebnisse ihrer künstlerisch-ethnografischen Arbeit – einer multisensorischen und VR-gestützten Installation – vor, bei der sich im Prozess des ‚Interfacing‘ ein Ineinandergreifen von Biofeedback und Datenvisualisierung ergibt, welches von den Teilnehmenden in unterschiedlicher Weise erlebt und beschrieben wird und verschiedene Zeitebenen (menschliche vs. technische) verknüpft. Dabei wurde diskutiert, ob sich eine radikale Auflösung der Subjekt-Objekt-Trennung wie sie beispielsweise Mark Hansen im Anschluss an Whitehead für die Medien des 21. Jahrhunderts beschreibt, mit phänomenologischen Konzepten verbinden lässt, die die leibliche Erfahrung zentral setzen und damit am Subjekt und seinem Zeitempfinden festhalten.

Der Beitrag von Armin Beverungen (Siegen) setzte sich mit „Executive Dashboards“ auseinanander, die von Firmen wie SAP als Angebot für managerielle Entscheidungsfindung (als ‚Digital Boardrooms‘) kommerziell vertrieben werden. Die Interfaces dieser ‚Dashboards‘ führen zum einen Echtzeitdaten über die jeweilige Organisation zusammen, stellen diese über die Datenbank SAP HANA quasi instantan für verschiedene Berechnungen zur Verfügung und sollen verschiedene Simulationen im Dienste einer ‚Predictive Analysis‘ ermöglichen. Dabei erscheint das Dashboard als Ort der Konvergenz verschiedener Zeitlichkeiten von Verdatungs- und Auswertungsprozessen, die in der Werberhetorik mit Echtzeit-Versprechen gekoppelt werden, welche datengestützte ‚Wahrheiten‘ und damit algorithmische Potenz ausstellen, aber doch auch menschliche Entscheidungsmacht bestätigen wollen.

Im Abendvortrag fächerte Isabell Otto (Konstanz) unter dem Titel „Leap Second Interface. Die Pluralität der Weltzeit im Maß der Sekunde“ das Verhältnis zwischen Interfaces als ordnende Bezugnahmen auf Temporalität und der Pluralität der Zeit zwischen menschlichen und nichtmenschlichen Zeitregimen systematisch auf. Zum einen wurden die ‚Zumutungen der vernetzten Zeit‘ in Blick genommen, die die digitale Kommunikationssituation ausrichten, Einpassungen des arbeitenden Subjekts (z.B. in der Ratgeberliteratur zum effizienteren Zeitmanagement) fordern, aber auch widerständige Praktiken auslösen. Zum anderen standen historische Entwicklungsschritte des gegenwärtigen Zeitregimes der Pluralität im Fokus. Der Beginn des Atomzeitalters der Zeitmessung und die Einführung von Schaltsekunden, die die Differenz zwischen Erdrotation und koordinierter Weltzeit ausgleichen sollen, sind dabei ebenso wichtige Zäsuren, wie die seit Anfang der 2000er Jahre geführte Debatte um die Einführung einer vom planetarischen Bezugssystem abgekoppelten, kontinuierlichen Zeitskala für vernetzte Computer, für die Schaltsekunden häufig ein Problem darstellen. Das Interface diskutierte Isabell Otto dabei als Begegnungszone eigenzeitlicher Einheiten, deren Kopräsenz jedoch nicht Homogenisierung, sondern vielmehr simultane Heterogenität bedeutet und damit zur Beobachtung der Verschränkung von Zeitregimen innerhalb der digitalen Medienkultur einlädt.

Diese Verschränkung verschiedener Zeitebenen wurde auch in Simon Hirsbrunners (Siegen) Beitrag adressiert, der am Beispiel der Webseite ClimateImpactsOnline.com des Potsdamer Instituts für Klimafolgenforschung (PIK) die populäre Vermittlung von Temporalitäten des Klimawandels diskutierte, die sich an der fluiden Grenze zwischen der Auswertung historischer Daten und Klimasimulationen bewegen. Für die besondere Zeitlichkeit von Interface-Praktiken schlug Hirsbrunner den Begriff „interfacial field“ vor, um zum einen der ethnografisch-praxeologischen Perspektive Rechnung zu tragen und zum anderen Interfaces als je situierte ‚anchoring devices‘ zu verstehen, die die Temporalität digitaler Insfrastrukturen auf bestimmte Weise zugänglich machen.

Unter dem Begriff des „gAPPing“ gab Anne Ganzert (Konstanz) einen Überblick über die verschiedenen ‚Überbrückungsleistungen‘ von Beziehungs-, Dating- oder Hook-up-Apps, die als Location-Based Media permanente Verortung vornehmen und die Zeitlichkeiten verschiedener Nutzer*innen und Interface-Praktiken mit dem Werbeversprechen des ‚besseren‘ Beziehungsmanagements zusammenbringen und dabei Nähe und Distanz verhandeln.

Die Frage nach dem Verhältnis von räumlicher Verortung und zeitlicher Synchronisation spielte auch in Max Kanderskes (Siegen) Überlegungen zu SLAM-Technologien (Simultaneous Localization and Mapping) eine zentrale Rolle, die er am Beispiel autonomer Saugroboter diskutierte. Für die navigatorische Praxis des Saugroboters, die auf der permanenten Bestimmung der eigenen Position im Raum basiert, stellte Kanderske heraus, dass Zeitlichkeit neben der kartographischen Raumvermessung als Dimension der Auto-Kooperation ins Spiel kommt, da der Roboter sich stets auf die eigene Vergangenheit beziehen muss.

Während die Frage nach dem Interface sich in diesem Fall primär als Daten-Abgleich innerhalb des Roboter-Systems stellt und nur sekundär und in sehr beschränkter Weise für menschliche Nutzer*innen zugänglich gemacht wird, steht bei Computerspielen, die von Serjoscha Wiemer (Paderborn) in die Diskussion eingebracht wurden, das User Interface und seine audiovisuelle Gestaltung klar im Fokus. Anhand verschiedener Spielbeispiele verdeutlichte Wiemer, wie Game User Interfaces verschiedene Zeitfunktionen wie beispielsweise kompetitive Zeitvermessung, Zeitmanipulation und -reflexion oder Wiederholung ludisch umsetzen und betonte, dass sich die Zeitlichkeit des Interface dabei nicht auf technische Eigenzeitlichkeiten beschränken lasse, sondern stets in Korrelation zu Spielpraktiken gedacht werden muss.

Obwohl die Beiträge sehr unterschiedliche Fallbeispiele fokussierten, ließ sich als gemeinsamer Nenner an einem dynamischen Interface-Begriff festhalten, welcher Interfaces nicht als Artefakte oder technische Dinge, sondern als Prozesse konzipiert. In dieser  Fokussierung auf Prozesshaftigkeit ist die Frage nach der Zeitlichkeit immer schon angelegt. Interfaces erscheinen demzufolge als ephemere und transitorische „zones of activity“, in denen verschiedene Zeitregime und Prozessualitäten aufeinandertreffen und auch konvergieren – etwa Zeitlogiken menschlicher Praktiken mit Eigenzeiten computerbasierter Infrastrukturen. Einerseits entstehen damit Anknüpfungspunkte an Fragen der Sichtbarkeit und Sichtbarmachung (z.B. die zeitkritische Zugänglich- und Handhabbarmachung von Daten in visueller oder audiovisueller Form) und andererseits stellen sich Fragen der Zeitlichkeit auf der Ebene algorithmisierter Prozesse, die jenseits menschlicher Wahrnehmbarkeit operieren.

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